Zeitzeuge Viktor Knopf

Der Fluchtweg über den Krimmler Tauern

Die letzte Etappe und die letzte Transitstation der Flüchtlinge, die die amerikanische Besatzungszone in Österreich Richtung Italien verlassen haben, war das DP-Lager Givat Avoda in Saalfelden. An dieser Station habe ich mich Ende 1946 der Bricha zur Verfügung gestellt und für die jüdischen Flüchtlinge gearbeitet – uneigennützig, ehrenamtlich und aus Idealismus, weil es unsere Aufgabe und unsere Pflicht war, Leuten zu helfen, die Hilfe benötigten. Keine materielle, aber eine physische und eine moralischunterstützende Hilfe, damit sie gesund jene Routen bewältigen konnten, die für sie sehr beschwerlich waren. Es waren Leute, die zuvor nie am Berg gewesen waren und daher die Berge und deren Gefahren nicht kannten, und ein Weg über den Krimmler Tauern war auch damals kein Spazierweg. Die Flüchtlinge wurden nicht besonders ausgerüstet: Es gab kein festes Schuhwerk und auch keinen Regenschutz, keine Stöcke und nur wenig Verpflegung, da ja alles getragen werden mußte. Daher hatten die Flüchtlinge, außer dem, was sie am Leibe trugen, auch kein Gepäck bei sich.
Dazu kommt noch, daß in Saalfelden Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern eintrafen: Rumänen, Ungarn, Russen, Polen. Wie kommunizierte man mit diesen Leuten? Hast Du einen Rumänen angesprochen, um einen ersten Kontakt herzustellen, sagte er „Nu stju“ – auf deutsch: „Ich verstehe nicht“ -; hast du mit einem Ungarn gesprochen, sagte er „Nem tudiom“; mit einem Russen „Nie poniemaju“ und mit einem Polen „Nie rozumie“. Nun, wie bringt man die Leute zum Gehen? Mit einem einfachen „Gemma“, denn anders kann man die Leute nicht zum Gehen bringen. Dies war der Anfang. Der Krimmler Tauern war aber nur vom Frühjahr bis zum Spätherbst, von der Schneeschmelze bis zum ersten Schneefall, passierbar. In den Wintermonaten – zwischen November 1946 und Mai 1947 – haben wir die Leute per Bahn in die französische Zone nach Tirol geschmuggelt. Sowohl mit Autos als auch zu Fuß war dies schwer möglich, also versuchten wir es mit der Eisenbahn. Wie haben wir das gemacht? Von Saalfelden fuhr ich mit dem Zug zuerst bis Bischofshofen oder bis Schwarzach – also in die falsche Richtung. Ich bin im Paketwagen eingestiegen, habe mir die Uniform des Schaffners angezogen und, nachdem ich ja der deutschen Sprache mächtig war, habe ich ihm als Gegenleistung für eine Packung Zigaretten und eine Dose Fleischhaschee vorgeschlagen, sich schlafen zu legen. Wir haben dann im Paketwagen alle Pakete vorgeschoben, haben dahinter eine Trennwand montiert und hinter dieser dann 30, 40 oder 50 Leute versteckt. Dann wurden die Pakete wieder vor der Trennwand aufgestapelt, und so sind wir nach Hochfilzen gekommen, zum Grenzübergang in die französische Zone. Die französischen Grenzkontrollen haben den ganzen Zug streng kontrolliert und nach Juden gesucht. Ich bin in Uniform beim Fenster oder bei der Tür gestanden, und wenn einer fragte: „Sind da Juden?“ sagte ich „Nein.“ Nun galt es schnell wegzukommen. In Kitzbühel habe ich mich dann umgezogen, habe die Leute aus dem Paketwagen geholt und habe ihnen gesagt: „Paßt’s auf, in Solbad Hall in Tirol steige ich auf der rechten Seite aus. Ihr beobachtet mich vom Fenster aus, und wenn ich aussteige, dann steigt ihr auch aus.“ Plötzlich sind aus allen Waggons Leute ausgestiegen, 20, 30, 40, soviele es eben waren. In Solbad Hall warteten bereits amerikanische Lastwagen der Bricha, GMCs oder Dodges, die uns ins Lager Gnadenwald brachten, dem Tiroler Absprungpunkt nach Italien. So sah unsere Methode des Weitertransports der Flüchtlinge in den Wintermonaten bis zur Schneeschmelze im Frühjahr 1947 aus.
Jetzt komme ich zu meinem liebsten Weg, der mir am meisten ans Herz gewachsen ist, der wunderschön war, aber hohe körperliche Anforderungen gestellt hat. Im Lager Saalfelden lebten in der Regel einige Hundert Personen. Wenn wir jetzt 150 oder 200 Leute wegführten, hat uns der liebe Freund Marko Feingold aus Salzburg wieder 150 geschickt, damit das Lager voll blieb und wir immer genügend Leute zum Weitertransport hatten. Die Flüchtlinge mußten wir aber, je nach körperlicher Eignung, trennen. Denn der Weg über die Berge war Alten und Gebrechlichen ebensowenig zuzumuten wie Schwangeren, Kranken oder Kleinkindern. So suchte man nachmittags, so zwischen 16 und 17 Uhr, vor allem junge und gehfähige Leute aus, die man für 22 Uhr zum Transport bestellte. Dafür standen normalerweise vier Lastwagen zur Verfügung. Zwei davon, ein GMC und ein Dodge, gehörten dem Lager; die anderen beiden wurden von der Firma Geiger in Saalfelden und von der Firma Koidl in Mittersill angemietet. Die Chauffeure kamen am Abend, haben die Leute, 150 bis 200, aufgeladen, und ab ging die Fahrt nach Krimml. Üblicherweise gab es dabei keine Probleme.
Nur ein einziges Mal hatten wir einen Unfall, aber Gott sei Dank keinen tödlichen. Als wir mit einem vollbesetzten Transport in Wald, einem Ort im Oberpinzgau, über die Brücke fuhren, öffnete sich bei einem Lastwagen, den der nachmalige Nationalrat und Bürgermeister von Saalfelden, Adolf Pichler, lenkte, die Bordwand. Dabei fiel ein rumänisches Mädchen namens Stella aus ungefähr drei Metern Höhe in den Bach, schlug dabei auf einem Felsen auf und brach sich das Becken. Sie blieb die einzige, die wir ins Lager nach Saalfelden zurückbringen mußten. Wir hatten dort ein kleines DP-Hospital, das ein gewisser Dr. Schubert unter Assistenz der Krankenschwester Rosemarie leitete. Sechs Wochen lag Stella in Gips, bis sie wieder gehfähig war. Dann führten wir sie nicht mehr über die Berge, sondern schickten sie mit dem Zug weiter, um eventuelle Ängste zu vermeiden.
In Krimml angekommen, ließen wir die Leute beim „Fernsebner“ aussteigen, das ist das letzte Haus auf der rechten Seite vor den Krimmler Wasserfällen, wo der Fußmarsch hinauf zum Krimmler „Tauernhaus“, der ersten Station, begann. Vom „Tauernhaus“ in rund l600 m Seehöhe führte unser Weg zur Grenze auf den 2600 m hohen Krimmler Tauernpaß, und dann auf Südtiroler 3 Seite hinunter nach Käsern im Ahrntal. Dort übergaben wir die Leute unseren Kollegen, die ständig in der Bricha arbeiteten.
Wie ist nun so ein Transport verlaufen? Alles spielte sich in der Nacht ab: Um 2 Uhr kamen wir in Krimml an. Die Devise hieß: Ruhig aussteigen, keine Spuren hinterlassen, sondern so gehen, als ob niemand hier gewesen wäre. Der Gendarmerie-Postenkommandant von Krimml, Herr Kraut, war eingeweiht; er hat wissend geschlafen, die Bevölkerung hat ja auch geschlafen. Die Gruppen bestanden aus 150 bis 200 Personen, bessere und schlechtere Geher, begleitet von zwei Bricha-Führern – einer ging an der Spitze, der andere am Ende des Zuges. Während die ersten schon den ersten Wasserfall erreichten, waren die letzten fast noch am Talboden. Um keinen zu verlieren, mußte gewartet werden, bis alle aufgeschlossen hatten, schließlich war unsere Verantwortung groß. So kamen wir gegen 5 Uhr morgens zum oberen, zum dritten Wasserfall; die einen waren schon ausgeruht, die ändern kamen eben müde an. Von dort geht der Weg geradeaus, vor allem mit nur geringer Höhendifferenz, taleinwärts bis zum Krimmler „Tauernhaus“. Schließlich kamen wir dann beim „Tauernhaus“ an, mit verschiedenen Hindernissen zwar, der eine hatte Bauchschmerzen, der andere hatte das eine oder andere Problem, aber das gehörte dazu. Wir benötigten für den Weg von Krimini zum „Tauernhaus“ nicht drei Stunden, sondern manches Mal auch fünf und sechs Stunden, aber wir sind stets vollzählig angekommen, es hat nie jemand gefehlt.
So ungefähr gegen 7 Uhr morgens erreichten endlich auch die letzten das Krimmler „Tauernhaus“. Die Wirtsleute dort waren sehr lieb und sehr nett zu uns. Wir haben Lebensmittel mitgebracht. Liesl Geisler, die Wirtin, deren Sohn heute das Haus führt, war eigentlich die Mutter, wenn Kinder – keine Säuglinge, aber kleine Kinder – dabei waren. Sie stand in der Küche, kochte „Papperl“, machte Tee und Eintopf für die Leute, damit sie etwas Warmes zum Essen hatten. Da im Haus selbst zu wenig Platz für alle war, ließen sich die einen auf der Veranda nieder, die besonders Strapazierten ruhten im Matratzenlager.
Gegen 16 Uhr hieß es dann: „Auf zum Krimmler Tauern-Übergang“. Dies war wieder ein sehr anstrengender Fußmarsch, hinein Richtung Talschluß, dann einem Wasserfall entlang auf schottrigem Terrain steil bergan. Der Weg durchs Windbachtal hinauf zur Grenze nahm mehrere Stunden in Anspruch, bis 8 oder gar 9 Uhr abends. Dann waren wir erst oben an der Grenze, am Übergang des Tauernhauptkammes. Jetzt ging es hinunter nach Käsern, und das war damals auch ein Weg von ungefähr drei bis vier Stunden. Auf diesem Nachtmarsch nach Käsern hatten die Flüchtlinge keine Lampen. Auch wir von der Bricha hatten keine Lampen. So kamen wir meist erst zwischen 1 und 2 Uhr nachts in Käsern an. Dort wurden die Leute im Gasthof „Käsern“ und in einem Bauernhaus untergebracht, das vom Joint, also von der Bricha in Meran, als Erholungsheim angemietet worden war. Hier waren im Sommer 1947 immer 40 „Gäste“ polizeilich gemeldet. Mit den 4 Einheimischen gab es keine Probleme und gute Kontakte. Die Bevölkerung im Ahrntal wußte ja, daß die Flüchtlinge immer nur kurze Zeit blieben. Wenn die Mitarbeiter der Bricha einen neuen Transport erwarteten, wurden die anwesenden 40 Personen weggeführt. Im nunmehr leeren Haus konnten nun die jeweils 40 körperlich schwächsten Neuankömmlinge einquartiert werden. Die übrigen wurden sofort von der Bricha mit amerikanischen Rot-Kreuz- Wagen nach Meran gebracht. Wenn ich nach der Ankunft fragte, ob sie den Weg noch einmal machen würden, sagten alle „nein“, da könne kommen, was wolle.
Der Grenzübertritt am Krimmler Tauern wäre natürlich ohne die Unterstützung und Hilfe österreichischer Grenzbeamter und italienischer Carabinieri unmöglich gewesen. Auf Südtiroler Seite halfen mir zwei später sehr gute persönliche Freunde, Brunero und Medici. Als ich die beiden erstmals traf, radebrechte ich mit ihnen halb italienisch, halb deutsch, und erkundete, was sie für ihre Hilfe haben wollten und womit ich ihnen behilflich sein konnte. Sie wünschten sich Feuerzeuge und Sardinen. Also habe ich meinen Rucksack mit Sardinen und Feuerzeugen vollgepackt und bin wieder hinauf zur Grenze. Die beiden waren so dankbar, daß sie uns halfen, wo immer es ging, Rucksäcke schleppten und sogar kleinere Kinder bis hinunter nach Käsern trugen. Das waren Männer, die uns sehr gut gesinnt waren und alle Probleme bereits im Vorfeld beseitigten. Auch die österreichischen Grenzbeamten haben wir mit Zigaretten und Feuerzeugen versorgt.
Von einem einzigen Vorfall, den wir provozierten, muß ich noch erzählen. Als die Engländer erfuhren, daß die Juden den Weg über den Krimmler Tauern nach Italien nahmen, schickten sie Posten hinauf zur Grenze. Wir wurden von den Mitarbeitern der Bricha in Meran verständigt, die ihrerseits von den Carabinieri informiert worden waren. Da machten wir folgendes: Wir suchten 80 Burschen aus, richtig gesunde Burschen, und gingen mit ihnen zum Paß hinauf, um uns fangen zu lassen, oder besser: um uns vom Grenzübertritt abhalten zu lassen. Die Engländer warteten schon oben und verweigerten uns mit einem „No, no!“ den Grenzübertritt. Was sollte man machen? Wir gingen einfach wieder zurück zum Krimmler „Tauernhaus“ und warteten zwei Tage. Nach zwei Tagen waren die Engländer nicht mehr da. Nun gingen wir mit 250 Leuten über die Grenze und haben so die Engländer ein bißchen „überzuckert“. Man konnte Engländer wie Franzosen gleichermaßen hereinlegen. So haben wir immer wieder die Leute in Saalfelden übernommen und sie gesund und vollzählig in Käsern der Bricha von Meran übergeben.
Nicht vergessen möchte ich auch, all jene zu erwähnen, die uns bei dieser schwierigen Aktion besonders geholfen haben. Es waren nicht viele, so der spätere Nationalrat und Bürgermeister von Saalfelden, Adolf Pichler, Herr Koidl aus Mittersill, Herr Josef Gritsch, Bediensteter beim Arbeitsamt in Zell am See, der manchmal auch als Chauffeur aushalf. Herr Prem, 5 Zollwacheorgan beim Zollwachehäuschen oberhalb des „Tauernhauses“, bot mir des öfteren, wenn er auf seinem Motorrad nach Krimml unterwegs war, eine Mitfahrmöglichkeit an: „Viktor, weißt was, steig auf, ich bring Dich hinunter!“ lautete das Angebot, das ich nicht ablehnen konnte, mußte ich doch die Strecke von Krimml nach Käsern und wieder zurück nach Krimml zweimal wöchentlich zurücklegen. Einige Tausend Flüchtlinge konnte ich so wohlbehalten über die Berge begleiten, und das ist mein Stolz. Nach dem 15. Mai 1948, nach der Proklamation des Staates Israel, hat sich die Bricha dann bald aufgelöst, da nun alle Juden legal in ihre neue Heimat fahren konnten.
Viktor Knopf wurde 1922 in Teschen bei Ljublin(Schlesien) geboren. Ab 1946 lebte er im Pinzgau/Salzburg. 1998 ist er in Zell am See verstorben.
Obiger Text ist aus dem Buch: Thomas Albrich (Hg.), flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdische Exodus durch Österreich nach 1945. Studien-Verlag Innsbruck-Wien 1998, S. 193 – 198