Dass heute so viel von Erinnerung geredet wird, hat auch mit dem vergangenen Jahrhundert zu tun. Das 20. Jahrhundert ist als das bisher blutigste in die Geschichte eingegangen. Nie zuvor wurde der Massenmord an Menschen so ausgeklügelt betrieben: Millionen waren Opfer der brutalen Vernichtungsaktionen gegen die Juden, Hunderttausende derer gegen die Zigeuner und die geistig Behinderten; viele mussten um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben; es gab die Opfer des Widerstandes, der erschossenen Geiseln; derer, die nicht Widerstand leisteten, aber eher den Tod hinnahmen, als ihr Gewissen zu beugen. Die Vernichtungskriege der letzten 100 Jahre führten unvorstellbar viele Menschen – Kriegsteilnehmer und Zivilisten – in den Tod, die wiederum Millionen von Witwen, Halbwaisen und Vollwaisen hinterließen.Neben diesem unübersehbaren Heer der Toten erheben sich Berge menschlichen Leides.
Die jüngere Generation von heute kennt die Nazi-Tyrannei nur aus Dokumenten, Film- und Tonaufnahmen, Erzählungen. Dennoch sind die Ereignisse von damals bedrängend nahe. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die sensibel die Zeitgeschichte heutiger Barbarei wahrnehmen, fragen bohrend, ob sich so etwas nicht doch wiederholen kann.
Es ist ein gutes Zeichen, dass sich Organisationen, Gemeinden und Kirchen zunehmend entschließen, „Denk“-mäler zu errichten, nicht nur für die Soldaten, die von einem verbrecherischen Regime um ihr Leben betrogen wurden und zu Tode kamen. Auch die Namen der zivilen Opfer verdienen es, aus der Anonymität geholt zu werden, wie der jener 76-jährige, halbblinden alten Frau aus Linz, die einem Kriegsgefangenen, der mit vielen anderen durch die Straßen getrieben wurde, ein Glas Milch reichte und die dafür ins KZ kam und dort umgebracht wurde. Oder jener namenlose Häftling, der sich weigerte, seinem Mitgefangenen die für einen Fluchtversuch verordneten 50 Peitschenhiebe zu verabreichen und der dafür erschossen wurde, mit den Worten auf den Lippen: „Einen Mitgefangenen schlage ich nicht!“ Es ist gut für unsere vergessliche Gesellschaft, in Gedenkmärschen, Ansprachen, persönlichen Zeugnissen, in Gebeten und Gesängen dramatisch sichtbar zu machen, worauf eine humane Gesellschaft gründet, gründen muss.
Nur die wahrhaftige Erinnerung kann uns bewahren vor der Gleichgültigkeit der Vergesslichen, die nichts mehr wissen wollen und vor der Überheblichkeit der Bekehrten, die von nun an alles besser wissen.
Zu der Erinnerung an jene Jahre des Schreckens und des Aufatmens nach dem großen Entsetzen und dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes aus den materiellen und geistigen Trümmern, gehören aber auch jene Lichtgestalten unter uns, die die Fackel der Menschlichkeit am Brennen gehalten haben und eine von ihnen war die Wirtin und Mutter im Krimmler Tauernhaus: Liesl Geisler-Scharfetter.
Ihr Leben umfasst, mit ein bisschen Randunschärfe, das 20. Jahrhundert. Das bedeutet: 2 Weltkriege, der konzentrierte Wahnsinn der Menschheit, Wirtschaftskrise, Niedergänge und Aufbrüche im Großen und Kleinen, Hunger und Verlassenheit von Frauen und Kindern, Wiederaufbau unseres Vaterlandes aus geistigen und materiellen Trümmern. Die Krimmler Sandbichltochter Elisabeth Unterwurzacher heiratet 1932 im Salzburger Dom den Tauernhauswirt Friedrich Geisler. Zwei Buben, Franz und Adi, sind der ganze Stolz des jungen Paares. Aber nur 11 Jahre dauert das Glück: im März 1943 verunglückt Friedl auf tragische Weise. Nun erwies sich Liesl als wahrhaft starke Frau, die nach dem Tod des Gatten sich nicht im finsteren Loch des Schmerzes verkroch, sondern ihren unbändigem Lebenswillen aufgeboten hat, um in tastendem Glauben nach Licht auszuschauen, das hinter dem Dunkel ahnbar ist und den Weg weiterzugehen möglich macht. Durch die Treue ihres Geleites, durch den Trost ihrer Zuneigung hat sie neu aufgebaut, was die Atmosphäre eines Zuhause bestimmt und das Wort Heimat so kostbar macht, indem sie den Kindern über den Verlust des Vaters hinweghalf. 1946 heiratet Liesl wieder: den Schi- und Bergführer Bert Scharfetter.
Das Krimmler Tauernhaus wurde vor über 600 Jahren als „Taverne im Übergang“ gegründet. Wieviele Menschen werden wohl in den 6 Jahrhunderten des Bestehens in diesem Haus Rettung, Schutz und Stärkung erfahren haben? Was ist wohl in der wunderschönen alten Bauernstube alles ausgetauscht worden an bestandenen Abenteuern, an heimlichen Liebesgeschichten, an verbitterten Lebensgeschichten, an Enttäuschungen und neugewagten Aufbrüchen, an erfundenen und wirklichen Heldentaten von Schmugglern und Jägern?
In den Jahren, in denen Liesl Geisler-Scharfetter die Hausmutter im Tauernhaus war, erfüllte sich die Bestimmung des Hauses auf wahrhaft dramatische und signifikante Weise. Während des Krieges waren Soldaten des Bautrupps, der Flugwache, des Grenzschutzes im Tauernhaus einquartiert und es gelang ihrer charmanten Hartnäckigkeit immer wieder, Möglichkeiten des Miteinander-Existierens auszuhandeln.
Aber die große Stunde der Bewährung ihrer leidenschaftlichen Menschlichkeit und Mütterlichkeit, die weit über die Grenze der eigenen Familie hinausging, schlug nach dem Ende des Kriegs, als nach dem Zusammenbruch der Südfront am 28. April 1945 der Rosenthalwirt Bruno Huber als erster von 8.000 bis 10.000 Heimkehrern den Krimmler Tauern in Richtung Heimat überschritt. Sie hatten dieses Schlupfloch erwählt, um einer eventuellen französischen (über dem Brenner) oder englischen (über Sillian/Osttirol) Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Nun galt es die erschöpften, ausgehungerten und verwahrlosten Überlebenden zu verpflegen und zu stärken, die Kinder zu beschützen vor den achtlos weggeworfenen Waffen und dem herumliegenden Kriegsmaterial. Ein Stier wurde geschlachtet und die aus dem Fleisch gewonnene Suppe weckte die Lebenskräfte für die bevorstehenden großen Herausforderungen des Wiederaufbaus.
1947 war dann das Jahr der Judenflucht über den Krimmler Tauern. Die ausgemergelten Überlebenden der KZs waren in Saalfelden gesammelt worden und kamen jede 2. Nacht mit dem LKW nach Krimml und lagerten tagsüber im und um das Tauernhaus, um Kräfte zu sammeln für den Übergang. Es galt, sie zu verpflegen. Liesl kümmerte sich vor allem um die Säuglinge und Kinder, kochte unentwegt Süppchen und warme Speisen.
Um 3 Uhr nachmittag war Aufbruch ins Windbachtal und der nächtliche Übergang über den Krimmler Tauern nach Kasern, um von dort den Weg zu finden nach Genua, wo Schiffe bereitstanden für die Überfahrt nach Palästina. Der 22-jährige Franz und der nachmalige Richterhüttenwirt Egon Vogl begleiteten oft den traurigen Marsch auf den Tauern mit dem Saumpferd, in einer Kiste waren die Säuglinge verstaut.
Hier erwies sich die gute Liesl Geisler-Scharfetter als eine Säule der Menschlichkeit und lebte eine Mütterlichkeit, die weit hinausging über die Bande des Blutes und der Verwandtschaft. Ihr Mitleiden erschöpfte sich nicht in sentimentalen Beteuerungen des Gefühls, sondern packte zu mit ihren für das Gute begabten Händen. Nicht der eigene Schmerz war der Mittelpunkt ihrer Welt, sondern die unsägliche physische und psychische Not der der Hölle Entronnenen, die mit der ihnen verbliebenen unbändigen Lebenslust nach der ersehnten neuen Heimat in Palästina trachteten.
Von solchen Leuchtfeuern der Humanität lebt unsere Gesellschaft mehr als von Deklarationen und Parteitagsbeschlüssen.
Dieses Erinnerungszeichen darf nicht in Vergessenheit geraten. Vergessenheit entfremdet Menschen von ihrer Geschichte, schneidet sie von ihren Wurzeln ab. Sie werden haltlos, verlieren die Orientierung. Ihnen kommt der Lebensfaden abhanden. Damit gehen nicht nur die vergangenen Hoffnungen verloren, auch die erfahrenen Leiden werden verdrängt. Wer sich erinnert, kann an die eigene Geschichte anknüpfen, kann das erlittene Leiden verarbeiten, braucht die begangene Schuld nicht länger zu verleugnen und zu vertuschen. Solches Erinnern mag schmerzhaft sein. Es ist freilich nicht nur mühsam, sondern auch heilsam. In ihm steckt eine befreiende Kraft.
Es ist und bleibt indes eine mutige, zukunftsträchtige Tat. Aus der Erinnerung wird die Zukunft geboren. Unserem Volk geht es da nicht anders als jedem und jeder Einzelnen: «Vergessenheit führt ins Exil, das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung», heißt es in einem jüdischen Sprichwort.
Peter Hofer
Dr. Peter Hofer ist Theologe und Univ. Prof. An der Universität Linz