Antisemitismus in der Corona-Krise

Verschwörungsphantasien, die sich mit der Corona-Krise fast schneller als der Virus selbst ausbreiten, erweisen sich für Antisemitismus als äußerst anschlussfähig. Juden (Jüdinnen werden damit kaum assoziiert) gelten als Urheber und Profiteure des Virus; gleichzeitig relativieren ImpfgegnerInnen oder White Supremacists den Holocaust, indem sie sich auf Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen den Judenstern anheften. Eine Analyse von Helga Embacher.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie der University of Oxford glauben 40 Prozent der insgesamt 2.500 befragten Briten und Britinnen, dass mächtige Menschen das Corona-Virus bewusst verbreiten würden, um Kontrolle zu erhalten; 20 Prozent halten das Virus für eine Erfindung. Die britische Bevölkerung bildet aber keine Ausnahme. Der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller unterzeichnete beispielsweise ein Schreiben gegen Corona-Beschränkungen, in dem von Kräften die Rede war, die mit dem Virus bewusst Panik erzeugen würden, um eine jeglicher Kontrolle enthobene Weltregierung zu schaffen. In sozialen Netzwerken verbreiten sich Verschwörungstheorien – eigentlich Verschwörungsphantasien – fast schneller als das Virus selbst. Mit der Aufhebung der strengen Ausgangsbeschränkungen wurden auf Demonstrationen diverse Ängste sowie Feindbilder zum Ausdruck gebracht. Zumeist handelt es sich um sehr heterogene Gruppen, deren Bandbreite von 5G-GegnerInnen, ImpfgegnerInnen, um ihre demokratischen Rechte besorgte Bürger und Bürgerinnen bis hin zu Rechtsradikalen, Identitären und White Supremacists (in den USA) reicht.

Als einer der Haupturheber stand schnell der Microsoft-Gründer Bill Gates fest, der Gerüchten zufolge ein Patent auf das Virus habe und zur Hebung seines Reichtums alle zu einer Impfung zwangsverpflichten wolle. Oft ist auch nur von finsteren Mächten die Rede, die für ein Unheil, eine Krise oder Pandemie verantwortlich seien und die Menschheit beherrschen wollen. Derartige Verschwörungstheorien erweisen sich auch als anschlussfähig für Antisemitismus. Wie zu erwarten war, lebten mit der Corona-Krise auch antisemitische Stereotype und Weltverschwörungstheorien auf, ließen sich diese doch besonders gut mit den Corona-Verschwörungsphantasien verbinden. Im Folgenden wird auf drei wesentliche Ausprägungen näher eingegangen.

Soros, Rothschild, Israel, die Juden: Antisemitische Verschwörungstheorien
Neben Bill Gates, der teilweise als Jude oder Freund von Juden bezeichnet wird, gelten George Soros (ungarischer Holocaustüberlebender, Philanthrop und Investor), die Rothschilds, Zionisten, Israel oder „die Juden“ als Urheber und Nutznießer der Pandemie. Auf einer „Hygienedemo“ in Stuttgart war beispielsweise auf einem Transparent zu lesen: „Polizisten! Macht Euch nicht zu Bütteln von Bill Gates, George Soros, David Rockefeller und ihren deutschen Statthaltern“. Diese Feindbilder mussten auch nicht neu erfunden, sondern lediglich reaktiviert werden. Insbesondere Soros avancierte seit der „Flüchtlingskrise“ von 2015 zum Code für eine jüdische Weltverschwörung. Für den ungarischen Premierminister Viktor Orbán, der als Erfinder des „Feindbildes Soros“gilt, stand dieser unmittelbar nach Ausbruch der Corona-Krise als einer der zentralen Sündenböcke fest. In den USA verschickte Trumps Gesundheitssprecher Michael Caputo auf Twitter ein Foto von Soros mit der dazu lautenden Bildunterschrift: „The real virus behind everything“. Zudem vertrat er, dass Soros die Pandemie brauche, um eine politische Agenda zu promoten. Ähnliches warf er dem Ökonomen David Rothschild (er steht mit der französisch-britischen Bankiersfamilie in keinem Verwandtschaftsverhältnis) vor. Dieser hatte zuvor Trump wegen seines Corona-Krisenmanagements scharf kritisiert; Soros gilt ebenfalls als Trump-Kritiker und spendete an die Demokratische Partei.

Verschwörungstheorien bleiben häufig auch gesichtslos und spielen auf die angebliche generelle Macht von Juden an, denen finanzielle Bereicherung unterstellt wird. Laut der bereits zitierten Studie der University of Oxford glauben über 19 Prozent der befragten Briten und Britinnen, dass Juden das Virus erzeugt hätten, um damit zur eigenen finanziellen Bereicherung einen Zusammenbruch der Wirtschaft herbeizuführen; 80 Prozent stimmten nicht zu. Wie ein FBI intelligence report festhält, behauptete eine White Supremacist Gruppe, dass das Virus eine jüdische Erfindung wäre, um mit Impfungen reich zu werden. Corona-Kranke sollten daher Orte wie Synagogen (aber auch Moscheen) aufsuchen und dort das Virus verbreiten. In Ohio war auf einem Plakat eine Ratte mit der Karikatur eines stereotypischen jüdischen Gesichtes abgebildet. Der Text dazu lautete: „The real plague“. Gemeint ist damit, dass nicht das Corona-Virus, sondern die (imaginierte) jüdische Dominanz das wahre Problem sei. In diversen Postings wird Juden vorgeworfen, das Virus in Zusammenarbeit mit China in einem chinesischen Labour erfunden zu haben. Auf einem Cartoon, das orthodoxe Juden abbildet, war zu lesen: „It’s not Chinese. It‘s the JEW FLU!” Darin zeigt sich die Anpassungsfähigkeit des Antisemitismus an neue gesellschaftliche Gegebenheiten.

Mächtige Menschen würden das Corona-Virus bewusst verbreiten um Kontrolle zu erhalten.

Besondere Verbreitung finden antisemitische Verschwörungstheorien in arabischen Ländern sowie in der Türkei und im Iran, wobei der Fokus auf Israel bzw. den Zionisten liegt, die mit den USA gemeinsame Sache machen würden. Fatih Erbakan, Vorsitzender der neu gegründeten Yeniden Refah Partisi, beschuldigte beispielsweise die USA und Israel, das Virus zur Sicherung ihrer Vorherrschaft aus strategischen Gründen auszubreiten. Der iranische Oberste Religionsführer Ayatollah Ali Khamenei verglich in seiner Rede anlässlich des Jerusalem Tages das „zionistische Regime“ mit Corona, das wie das Virus ausgelöscht werden sollte. Gleichzeitig rief er zur Unterstützung des palästinensischen Widerstandes auf. Die Rede ist sowohl im Kontext der Corona-Krise als auch der international sehr umstrittenen israelischen Bestrebungen, Teile des Westjordanlandes zu annektieren, zu sehen. Den PalästinenserInnen hat Khamenei damit allerdings keinen guten Dienst erwiesen.

Relativierung und Instrumentalisierung des Holocaust
Neben Verschwörungstheorien verbreiteten sich mit den staatlichen Corona-Verordnungen Relativierungen und Instrumentalisierungen des Holocaust. In Deutschland hefteten sich ImpfgegnerInnen auf sogenannten „Hygienedemos“ einen Davidstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ an; das Symbol findet sich zudem auf T-Shirts und Stickern. Auch ein schwarz-weiß gehaltenes Plakat mit zwei Männern – dem Chef-Virologen der Berliner Charité Christian Drosten und Josef Mengele, als Arzt im NS-Vernichtungslager Auschwitz für menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen verantwortlich – tauchte auf. Der Bildtext lautete: „Trust me, I’m a doctor“. Auf einer Kundgebung in München bezeichneten sich einzelne Personen als „Nachkommen der Sophie Scholl“; in Halle an der Saale wurden Bilder von Anne Frank gezeigt. Auch in den USA wurden auf Demonstrationen gegen „stay-at-home-orders“, die sich Großteils gegen demokratische GouverneurInnen richteten und von Trump zumindest verbal unterstützt wurden, häufig äußerst geschmacklose NS-Symbole gesichtet. In Michigan richtete sich der Zorn gegen Gouverneurin Gretchen Whitmer – von Trump zur Lieblingsgegnerin erkoren – die auf Plakaten mit Hitler („Heil Withmer“) verglichen und mit Hitlerbart und Hakenkreuz dargestellt wurde. In Illinois musste sich Gouverneur Jay Robert Pritzker, dessen Familie vor Pogromen in Europa geflüchtet war, Vergleiche mit Hitler und Abbildungen mit dem Hakenkreuz gefallen lassen. Für weitere Kritik sorgte in Illinois ein Transparent mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“, eine Anspielung auf die zynische Aufschrift im Vernichtungslager Auschwitz, wo Menschen systematisch vergast und durch unmenschliche Arbeitsbedingungen vernichtet wurden.

In Deutschland hefteten sich ImpfgegnerInnen einen Davidstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ an.

NS-Vergleiche und damit Holocaust-Relativierungen sind seit den 1990er Jahren mit der Enthistorisierung des Holocaust vermehrt zu beobachten. Indem der Holocaust zum Bösen schlechthin mutierte, sahen sich viele zu Vergleichen animiert, um größtmögliche Aufmerksamkeit für ihre Anliegen zu bekommen (z.B. AbtreibungsgegnerInnen oder GegnerInnen von nicht artgerechterTierhaltung). Dieser bewusste Tabubruch ist allerdings eine Verhöhnung und Verletzung der tatsächlichen NS-Opfer und ihrer Nachkommen. Gleichzeitig besteht wenig Scheu, mit Rechtsradikalen, die den Holocaust verleugnen, gemeinsam auf die Straße zu gehen.

Feindbild jüdische Orthodoxie
Verärgert darüber, dass eine Gruppe ultra-orthodoxer Juden (auch als Haredim oder Chassidim bezeichnet) in Williamsburg/Brooklyn trotz einer verordneten Ausgangssperre eine große Beerdigung für einen Rabbi abgehalten hatte, twitterte der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio: „My message to the Jewish community, and all communities, is this simple (…) I have instructed the NYPD to proceed immediately to summon or even arrest those who gather in large groups.“ Die unglücklich gewählte Formulierung des an sich keineswegs antisemitischen Bürgermeisters, womit er die gesamte jüdische Community für die Verbreitung von Corona verantwortlich machte, hatte heftige Reaktionen linker bis rechter jüdischer Organisationen zur Folge, zumal die Situation schon sehr angespannt war: Zum einen wiesen einige orthodoxe Communities zu Beginn der Pandemie besonders hohe Zahlen an Erkrankten auf, zum anderen waren orthodoxe Juden und Jüdinnen in den letzten Jahren zunehmend antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Laut einem Bericht der Anti-Defamation League (ADL) wurden 2019 vier orthodoxe Juden und Jüdinnen bei tätlichen Angriffen getötet: Eine Frau kam beim Angriff eines Rechtsradikalen auf eine orthodoxe Synagoge in San Diego ums Leben, zwei weitere jüdische (sowie zwei nicht-jüdische) Opfer gab es bei einem Anschlag auf einem koscheren Supermarkt in Jersey City, und ein Rabbiner erlag nach einem Überfall in seinem Haus während einer Chanukka-Feier seinen schweren Verletzungen. Mit der Corona-Krise mehrten sich dann vor allem in sozialen Medien Anschuldigungen, die die gesamte orthodoxe Community für die Verbreitung von Corona verantwortlich machten. Kommentatoren schlugen eine vorsorgliche Absonderung vom Rest der Community vor; andere wollten orthodoxen Juden und Jüdinnen als Strafmaßnahme jede medizinische Versorgung verweigern. Postings knüpften auch an traditionelle, bis ins Mittelalter zurückreichende antisemitische Vorurteile von den „schmutzigen Juden“, die Krankheiten übertragen würden, an. Antisemitismus blieb allerdings nicht nur auf das Netz beschränkt. In Goshen, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York, verweigerte eine KFZ-Werkstätte einem orthodoxen Juden trotz Termin das Service, da er – wie es ein Angestellter ausdrückte – das Virus verbreiten würde. In Williamsburg wurde Juden die Maske vom Gesicht gerissen, was Bürgermeister de Blasio sofort vehement verurteilte. Aktionen gegen die orthodoxe Communities in den USA sind jedenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie schnell verbaler Antisemitismus in gefährliche Tathandlungen übergehen kann, was allerdings nicht heißt, dass berechtigte Kritik – z.B. an der Missachtung von Corona-Regeln – durchaus auch mit nicht-antisemitischer Absicht einhergehen kann.

Einzelfälle oder eine gefährliche Entwicklung?
Wie gefährlich sind antisemitische Äußerungen in Sozialen Netzwerken? Wie sind „Hygienedemonstrationen“ oder Demos gegen „stay-at-home-orders“ mit einigen hundert bis mehreren tausend TeilnehmerInnen einzuschätzen? Und was kann gegen Verschwörungstheorien und Antisemitismus unternommen werden? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten, zumal wir aus der Vergangenheit wissen, dass sich Menschen vor allem in Krisenzeiten nicht leicht von ihrem Glauben – oder besser Aberglauben – abbringen lassen und Antisemitismus und insbesondere Verschwörungstheorien sehr stark mit Emotionen und Affekten verbunden sind. Aufklärungsarbeit, so wichtig sie ist, stößt somit teilweise an ihre Grenzen – vor allem dann, wenn es zu keiner Erholung der Wirtschaft kommen sollte und Menschen um ihre Zukunft fürchten müssen. Auf keinen Fall sollte die Gefahr der zunehmenden Vereinnahmung der Proteste gegen Corona-Verordnungen durch Rechtsradikale und White Supremacists, die sowohl in Europa als auch in den USA (wo sie sogar mit Waffen auftreten) ein hohes Aggressionspotential aufweisen, unterschätzt werden.

Helga Embacher ist Univ.-Professorin am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Letzte Publikation zum Thema (gemeinsam mit Bernadette Edtmaier und Alexandra Preitschopf): Antisemitismus in Europa. Fallbeispiele eines globalen Phänomens im 21. Jahrhundert, Wien 2019.